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NACHTS AM BAHNÜBERGANG

Es herrschte Nacht auf der Welt. Die Horden der Dunkelheit hatten die Legionen des Lichts vor etwa drei Stunden in die Flucht geschlagen. Die erste Kameraeinstellung zeigt die friedliche Welt. Bereits zu Beginn erlebt der Zuschauer den wohl größten und fulminantesten Zoom der Filmgeschichte, welcher höchstens übertroffen wird von dem IMAX®-Film "Cosmic Voyage"®. (Da sieht man mal wieder, dass, egal was man auch tut, es in irgendeiner extremeren Art schon gemacht worden ist. Man könnte sich eventuell noch vom höchsten Berg der Welt stürzen.) Das Bild rast nun auf die Welt zu und steuert einen Waldrand an. Immer genauere Details werden sichtbar. Zuerst die Baumstämme, dann die Äste und schließlich die Blätter. Das Bild hält abrupt vor einem am Waldboden liegenden Laubblatt, welches im Laufe des Herbstes schon gelb geworden ist. Der Zuschauer möge sich dieses Blatt in seinen Einzelheiten vorstellen; der Regisseur und Autor legt großen Wert darauf. Ein Windstoß erfasste das Blatt und trug es etwas vom Wald weg; die Kamera folgt dem Laubblatt. Es flog an einer Person vorbei, auf welche sich nun die Aufmerksamkeit des Betrachters richtet. Diese Person, ein Mann, befand sich in bedenkenswerter Position: sie war an eine Gleise gefesselt. Die Kamera schwenkt nun zurück und enthüllt die eigentliche Szenerie: einen stillen Bahnübergang. Die letzte Stunde dieses Individuums hatte bereits vor ungefähr 40 Minuten geschlagen. Der Mann lag still auf dem Gleis und wartete. Im nahen Wald hörte er eine Eule. Eine weitere Gestalt kam den Weg entlang. Sie spazierte gemächlich zum Bahnübergang. Das Knirschen des Kieses veranlasste die Person auf der Schiene hochzuschrecken. Er blickte auf das nahende Akkusativobjekt, welches in der Dunkelheit schwer zu erkennen war, zumal es eine schwarze Robe mit weiter Kapuze trug. Er erreichte den Mann auf dem Gleis, dessen Name hier nichts zur Sache tut, und blieb stehen. Der Kapuzenmann blickte hinab auf den Gefesselten oder zumindest glaubte es der Mann, denn er sah kein Gesicht; nur tiefe Finsternis.
"Wer bist du?", fragte daher der Mann auf der Schiene.
DER TOD, antwortete der Kapuzenmann.
"Ach was?!?!" Ungläubig riss er die Augen auf. "Echt?"
JA.
"Ich dachte, der hätte einen Totenschädel."
EIN IRRGLAUBE, gab Gevatter Tod zurück.
"Sehr gesprächig bist du ja nicht.", kritisierte der Mann.
MÖGLICH. VOR ALLEM REDE ICH UNGERN MIT LEUTEN WIE DIR, ALSO SELBSTMÖRDERN, behauptete Tod kühl.
"Wieso?", hakte der Mann nach.
ZU RESIGNIEREND UND DEPRIMIERT.
"Oh! Nun... ich unterhalte mich gern noch ein wenig." Erst jetzt bemerkte er die Sense in der unsichtbaren Hand des Todes.
"Bin ich bald tot?", erkundigte sich der Mann.
JA. IN GUT 15 MINUTEN. Tod setzte sich auf einen Stein am Wegrand, welcher etwa die Größe eines Heuballens aufwies. Die Sense legte er ins Gras.
"He! Ich hätte da ein paar Fragen, dich ich dich schon immer mal fragen wollte. Aber ich hatte bisher nie das Vergnügen, dich kennenzulernen. Wärest du so gütig, sie mir zu beantworten?"
MEINETWEGEN, sagte Tod.
"Gut! Äh! Warum bist du eigentlich jetzt schon da?"
ICH HATTE EINEN GUTEN TAG, ertönte die Stimme, die nur der Mann in seinem Kopf hören konnte. DA BIN ICH ETWAS FRÜHER HIER ALS SONST.
"So! Angenommen, ich würde mich jetzt befreien und mich von der Schiene entfernen, dann könnte mich der Zug, der bald kommt, gar nicht überfahren. Wäre ich dann trotzdem in 14 Minuten tot?", fragte der Mann.
JA! ES WÄRE SINNLOS. DAS SCHICKSAL HAT DEIN ABLEBEN IN 14 MINUTEN FESTGELEGT. SELBST WENN DU DICH BEFREIST, STIRBST DU.
"Bitte? Das musst du mir genauer erklären."
MENSCH! STELL DICH NICHT SO AN! WENN DU IN DEN WALD GEHST, WIRD EIN WILDERER DICH FÜR EINE WILDSAU HALTEN UND MIT PFEIL UND BOGEN ERSCHIEßEN. DAS SCHICKSAL HAT IHM HEUTE NACHT EINE RUHIGE HAND UND EIN SCHARFES AUGE GEGEBEN.
"Und wenn ich diesen Weg hier entlanggehe?", fragte der Mann und deutete auf die Kiesstraße.
WEITER HINTEN HAT SICH EINE GRUPPE STRAßENRÄUBER NIEDERGELASSEN.
"Was ist, wenn ich einfach neben dem Gleis stehen bleibe?", bohrte der Gefesselte.
EINE HERDE GNUS IST AUF DEM WEG HIERHER.
"Warum?"
WEIß NICHT! IST MIR AUCH EGAL.
"Das Schicksal scheint ja an alles gedacht zu haben.", stellte der Mann fest.
JA. EIN ZIEMLICHER PEDANT.
"Wer?"
DAS SCHICKSAL, MENSCH!
"Kann es sich etwa auch manifestieren?", wollte er wissen.
JA, gab Tod knapp zurück.
"Und wie sieht es aus?"
DAS SCHICKSAL? GLAUB MIR, DAS WILLST DU NICHT WISSEN.
"Doch! Bitte sag es mir!", flehte er.
DER CASUS MACHT DICH LACHEN. NUN, ICH WÜRDE SAGEN, ES KOMMT EINER EITERBEULE NAH.
"So klein?"
NEIN! SO GROß WIE DER FELSEN, AUF DEM ICH SITZE, erklärte der Taufpate.
"Ist ja widerlich."
Einen Augenblick schwiegen beide. Die Nacht schritt fort; einige wenige Wolken marschierten den schwarzen Himmel entlang und verdeckten kurzzeitig den sichelförmigen Mond.
"Wie viel Zeit hab ich noch?", erkundete sich der zukünftige Tote.
NICHT VIEL. Gevatter Tod begann in den Innentaschen seiner schwarzen Robe zu kramen. WO HAB ICH DAS DING HIN, murmelte er vor sich hin. AH! HIER! Er zog eine Brotdose hervor. DOCH NICHT!
"Was ist das?"
WONACH SIEHT’S DENN AUS, fuhr ihn Tod an. MEINE BROTDOSE. FÜR DIE MITTAGSPAUSE. ABER SOWEIT IST ES NOCH NICHT. Der Sensemann steckte die Dose wieder ein und kramte weiter.
"Du hast eine Mittagspause?"
JA. VON 1 UHR MORGENS BIS 2 UHR. Sofort kam der Mann mit der auf der Hand liegenden Frage: "Was ist, wenn jemand in der Mittagspause stirbt?"
GEHT NICHT, antwortete Tod. ICH HABE MIT DEM SCHICKSAL EINEN VERTRAG AUSGEHANDELT, DER BESAGT, DASS NIEMAND IN DIESER ZEIT STERBEN DARF. Freund Hein verstummte kurz. Er schien in vergangenen Zeiten zu schwelgen. EINMAL HAT IRGENDEINE SEKTE VERSUCHT, IN IHREM TEMPEL MASSENSUIZID IN DIESER ZEIT DURCHZUFÜHREN. ES WAR EIN DEBAKEL. Er ging nicht näher darauf ein. Stattdessen zog er endlich die Sanduhr des Mannes aus einer Innentasche hervor. ENDLICH! Prüfend blickte er hinein. NOCH ACHT MINUTEN.
"Oh Gott! Ich habe noch kein Testament verfasst!", rief der Mann entsetzt und verbannte sein Gedächtnis ins metaphorische Exil.Tod verdrehte die imaginären Augen.
NICHT SCHON WIEDER. Er durchwühlte erneut seine Taschen und holte einen Notizblock mit Stift hervor. LANGSAM SOLLTE ICH EINE GEBÜHR DAFÜR VERLANGEN. DAMIT LIEßEN SICH MILLIONEN MACHEN, brummte er missmutig vor sich hin. NUN GUT! WAS SOLL ICH SCHREIBEN?, fragte er gelangweilt den Typen, welcher sich ans Gleis gefesselt hatte.
Der Mann überlegte. Leichter Wind zog auf und wirbelte einige Laubblätter durch die Luft. Der Zuschauer stelle sich den Tod inmitten dieser Szenerie vor; still, wartend, kalt, während der Wind an seiner Robe zerrt.
"Also,......meine Eltern kriegen mein Haus."
MIT GARTEN?
"Ohne! Den kriegt mein Hund."
Gevatter Tod nickte und schrieb. Eine längere Pause folgte.
"Mein Bruder bekommt meine Münzsammlung.", fuhr der Mann endlich fort.
ÄLTERER ODER JÜNGERER BRUDER?
"Ich hab nur einen jüngeren. Er möge sie gewissenhaft weiterführen."
GUT, WEITER?, drängte Tod. SCHWESTER?
"Hab keine."
KINDER?
"Hab keine."
GUT! DAS LOB ICH MIR! NÄHERE VERWANDTE?
"Tot."
RICHTIG. JETZT FÄLLT ES MIR WIEDER EIN. DEINE TANTE WAR EIN HARTER BROCKEN. DIE HAT GEREDET WIE EIN WASSERFALL., erzählte er. ABER EGAL. GLEICH IST ES SOWEIT. NOCH EIN WUNSCH FÜR DEIN TESTAMENT?
"Ja! Streich alles durch!", erwiderte der Mann.
WIESO?
"Ich habs mir anders überlegt. Ich nehme alles mit ins Grab."
OKAY! DAS HAUS AUCH?, fragte der Sensemann mit einem Hauch von Sarkasmus, welcher hier irgendwie nicht reinpassen wollte.
"Nein! Das sollen sie dem nächstbesten Obdachlosen schenken."
SEHR WEISE. WAR’S DAS?, erkundigte sich Tod ungeduldig.
"Ja. Ich glaub schon."
GUT. Thanatos steckte den Notizblock wieder ein. SCHAU! DORT DRÜBEN KOMMT SCHON DEINE HERDE GNUS ANGERANNT, FÜR DEN FALL, DASS DU NOCH MEUTERN SOLLTEST. UND DORT DRÜBEN FÄHRT DEIN HENKER. Er deutete auf den heranrasenden Zug. Dann holte er die Sense und hielt sich bereit.
"Tut es weh?", fragte der Mann.
WEIß NICHT. ABER ICH WAGE ES ZU BEZWEIFELN. WIE AUCH IMMER: WIR SEHEN UNS GLEICH WIEDER!


(Die folgende Szene ist für Zuschauer unter 12 Jahren ungeeignet und bleibt daher der Fantasie des Lesers überlassen.)